«Metzgete» und geistige Nahrung in der Krone Sihlbrugg

In der Gaststube des Hotels und Restaurant Krone Sihlbrugg hängt ein Teller mit der Aufschrift «Sihlbrugger Korona». Abgebildet ist der Landgasthof Krone. Heute kocht dort Thomas Huber in 13. Generation, wie er sagt. «Metzgete» ist nur eines der kreativ zubereiteten Gerichte aus einer der Saison angepassten Auswahl für Feinschmecker. Die Speisen präsentiert seine Partnerin Monika Jans. In Anlehnung an die 13 bezeichnen sie ihre Räumlichkeiten und die Speisekarte als «Tredecim». Doch auf dem Tellerrand vermerkt sind noch zwei Zahlen «1897-1937». Woran erinnern sie? Zum Traditionsbetrieb selbst haben sie keinen direkten Bezug, denn die Familiengeschichte reicht viel weiter zurück. Passanten können es auch nicht sein, ihre Besuche wären als singuläre Ereignisse zu vermerken. Und der nebenstehende Kachelofen mit seinen Aufschriften ist noch wesentlich älter. Thomas Huber ruft seinen Vater Ernst Huber mit der Bitte, einen Einblick ins Gästebuch zu ermöglichen.

Zur Erinnerung an die Sihlbrugger Korona

Die Krone Sihlbrugg liegt an der alten Gotthardroute auf dem Abschnitt des Landwegs zwischen Horgen und Zug. Säumerei, Brückenzoll und Pferdestallungen waren früher gute Gelegenheiten, um den Ruf eines Gasthauses aufzubauen. Familie Huber weiss zu erzählen. Im Gästebuch, das seit 1917 geführt wird, sind Widmungen prominenter Persönlichkeiten wie Prinz Heinrich der Niederlande, Prinz Philipp von Grossbritannien oder auch General Henri Guisan eingetragen. Und zur Jahrzahl 1937 auf dem Teller? – Dazu steht unter anderem im Gästebuch der Satz «Sihlbrugger Corona am 40. Jahrestage 1897-1937. 11. auf 12. September 1937». Dann folgen 15 Unterschriften. Ernst Huber und seine Schwester Verena Vanoli-Huber haben die meisten noch gekannt. Es seien Ingenieure, die sich jedes Jahr in Sihlbrugg getroffen hätten. Viele hatten im Eisenbahnbau Karriere gemacht. Doch wo hat es hier in der Nähe eine nationale Bahnlinie? Sie seien jeweils zu Fuss zu diesen Treffen gekommen! Anlass dazu war ihre Verabredung aus der Studienzeit am Eidg. Polytechnikum. 1897 mussten sie in der Umgebung von Sihlbrugg den vorgeschriebenen Vermessungskurs absolvieren und hatten in der Krone bei Familie Huber Unterkunft gefunden. Die «Corona» bezeichnete also in erster Linie eine Runde froher Studenten.  

Aus dem Gästebuch der «Krone Sihlbrugg»
zum 11./12. September 1937

Das Gästebuch erzählt noch weiter: «Nach 20 Jahren (siehe 11./12. Sept. 1937) und zum 60jährigen Gedächtnis an unseren Vermessungsaufenthalt des Polytechnikums in Sihlbrugg & an der hier gefundenen freundlichen Aufnahme, gedenken der vielen frohen verbrachten Stunden in Dankbarkeit der Familie Huber in der vierten Generation. Sihlbrugg, 27. September 1957»

Dann folgen 7 Unterschriften mit einem eingeklebten Ausschnitt aus der Einladung «60mal in Sihlbrugg! 1897-1957». Ob in der vierten oder welcher Generation auch immer, das ist für Ernst Huber weniger wichtig. Die «Corona» hat ihm einen bleibenden, lebendigen Eindruck von ehemaligen Studenten hinterlassen. Ihre Karriere und ihr Werk sind Zeugnis bekannter Ingenieure.

Aus dem Gästebuch der «Krone Sihlbrugg»
zum 27. September 1957

Unter Berufskollegen hatte sich das jährliche Treffen herumgesprochen. Beim Stöbern in der «Bauzeitung» fällt auf, dass manchmal die Rede ist von den «Sihlbruggern» oder vom «Sihlbrugger Kreis». Wer waren sie? Zur Bedeutung des jährlich durchgeführten Vermessungskurses soll vorerst die Entwicklung des «Poly» und der damaligen Ingenieurschule kurz gestreift werden. Seit seiner Gründung von 1855 hatte es mehrere Schulreformen gegeben. Eine einschneidende trat 1909 in Kraft, als der Bundesrat das vom Schweizerischen Schulrat entworfene neue Reglement genehmigt hatte. Demnach wurde die Zahl der Abteilungen auf elf erhöht und der Schule das Recht auf die Doktorpromotion erteilt. Gleichzeitig bestand die Forderung nach einer Umbenennung zur Hochschule, die zwei Jahre später erfüllt wurde. So heisst das Polytechnikum seit 1911 «Eidgenössische Technische Hochschule» (ETH 1955, 133-7). Die bisherige Ingenieurschule wurde 1909 erweitert zur «2. Abteilung für Bau-, Vermessungs- und Kulturingenieurwesen». Der Studiengang für Kulturingenieure war bereits 1884 eröffnet und bis 1909 an der 5. Abteilung für Land- und Forstwirtschaft angeboten worden. Die 3. Abteilung hiess nun Maschineningenieurschule und wurde um die Elektrotechnik erweitert. Weitere Anforderungen aus der Praxis berücksichtigte die nächste Schulreform von 1924, wonach verschiedene Abteilungen der zunehmenden Spezialisierung entsprechen sollten. So wurde unter anderen die 2. Abteilung aufgeteilt in die «Abt. II für Bauingenieure» und in die «Abt. VIII für Kultur- und Vermessungsingenieure». Diese Tendenz ist insofern bemerkenswert, als bis 1909 die Gebiete Vermessung, Topographie und Geodäsie am Eidg. Polytechnikum nur an der Ingenieurschule vermittelt wurden. Dahinter stand die Idee, dass sogar die grossen Ingenieurbauten von den Ingenieuren selbst vermessen und abgesteckt werden sollten (Kobold 1982, 14).

Der Vermessungskurs von 1897

Einen ersten Hinweis auf die «Sihlbrugger» gibt das gedruckte Schülerverzeichnis von 1897/98, und zwar der IV. Jahreskurs. Eingeschrieben waren 33 Studenten. Elf von ihnen kamen aus dem Ausland. Aufschlussreich sind zwei Nachlässe, die sich heute im Hochschularchiv der ETH befinden. Im ersten enthalten ist die Diplom-Arbeit von Eugen Labhardt mit der gestellten Aufgabe und seiner Lösung (Hochschularchiv ETH Zürich, Hs 1348). Im zweiten schreibt Charles Andreae seine persönlichen Lebenserinnerungen, worin er der Entstehung des «Sihlbrugger Kreises» einen besonderen Abschnitt widmet (Hochschularchiv ETH Zürich, Hs 1002:5).

So heisst es: Für den Abschluss an der Ingenieurschule mussten damals die Studenten zwei Diplomarbeiten machen, eine topographische und eine zweite, bei der man das Fach nicht wählen konnte. Es wechselte in dreijährigem Turnus ab zwischen Eisenbahnbau, Wasserbau und Brückenbau. Für die topographische Arbeit mussten die Kandidaten vier Wochen vor Beginn des Herbstsemesters «antraben», um Geländeaufnahmen zu machen, die Berechnungen durchzuführen und sie bis Weihnachten in einem Plan auszuarbeiten. Im Herbst 1897 bekam der Kurs zur Aufgabe, die Gegend zwischen Hirzel und Baar zu kartieren. Je drei Studenten bildeten eine Arbeitsgruppe. Für die Unterkunft von vier Wochen wurde der Kurs aufgeteilt. Die eine Hälfte logierte im Hotel Krone Sihlbrugg, die andere im Hotel Krone Baar. Kursleiter war Professor Otto Decher. Mit seiner Aufgabe wollte er eine zusammenhängende Aufnahme von 6 km Länge und 0,8 km Breite erreichen. Gegeben waren Punkte der III. und IV. Ordnung zur Lage und zur Höhe ein Fixpunkt bei der Sihlbrücke. Für die Vermessung musste ein Polygonzug festgelegt, dessen Punkte gemessen und die Koordinaten berechnet werden sowie ein Nivellement aller Polygonpunkte durchgeführt werden. Jede der Dreiergruppen hatte eine Fläche von 64 ha im Detail auszumessen und in einer Reinzeichnung 1:2000 aufzuzeichnen. Zusammen gab das somit 8 Blätter zu 40x40cm. Abgabetermin für Eugen Labhardt war Montag, der 3. Januar 1898 im Zimmer 1b des Polytechnikums.

Die Diplom-Arbeit von Eugen Labhardt

Zum Gang der Arbeit schreibt der Kandidat: «Unsere topographische Arbeit in Sihlbrugg nahm mit dem 20. September ihren Anfang durch Rekognoszieren des Terrains und Aufrichtung geeigneter Triangulationspunkte.» In der ersten Woche wurde dann der Polygonzug abgesteckt, das Fixpunktnivellement durchgeführt und «einige helle Tage zur Triangulation benützt». In der zweiten Woche folgten Polygonmessung und -nivellement mit gleichzeitiger provisorischer Berechnung der Koordinaten, wobei trotz schwierigem Gelände die erforderliche Genauigkeit erreicht werden konnte. In der dritten und vierten Woche machten die Dreiergruppen die Detailaufnahmen. Eine Arbeitsteilung habe sich besonders bewährt: Zwei von ihnen bedienten die Instrumente. Der dritte – er hatte offenbar noch einen Messgehilfen – zeichnete Handrisse und erstellte Tafeln von den wichtigen Situationen. Zum Abschluss wurde mit dem geforderten Bussolenzug in einem steilen Waldstück ein Profil für die Terrainzeichnung erhoben. «Das gesammelte Zahlenmaterial wurde alsdann zu Hause verarbeitet». Dies hiess Ausgleichung der Koordinaten, definitive Rechnung der Polygonzüge, Auftragen auf Messtischblätter und Eintragen der Detailmessungen. Davon erstellte jeder der drei eine Kopie, trug die Höhenkurven («Schichtenlinien») ein und erstellte danach selbständig den verlangten Reinplan.

Reinplan von Eugen Labhardt. Zürich, 3. Jan. 1898 (Hochschularchiv ETH Zürich,Hs 1348)

In Labhardts Diplomarbeit beansprucht der handschriftliche Bericht nur zwei Seiten. Darin machte der Kandidat die Bemerkung, dass sein Instrument ein «recht feldmässiges» sei und den Genauigkeitsanforderungen vollständig genügt habe. Und die Witterung sei ausser einer kurzen Kälteperiode äussert günstig gewesen. Dann folgen mehr als ein Dutzend Seiten mit numerischen Messresultaten und Berechnungen der Koordinaten. Ausserdem sind in einer grossen Mappe die grundlegenden Blätter sowie als Blatt 7 der verlangte Reinplan 1:2000 enthalten, datiert mit «Zürich, 3. Jan. 1898» und signiert mit «E. Labhardt, cand. rer. tech.».

Zur Diplom-Arbeit von Charles Andreae

Bei den Handschriften von Charles Andreae ist eine topographische Arbeit nicht erhalten, wohl aber jene aus dem Eisenbahnbau bei Professor Eduard Gerlich. Der Kandidat hatte einen Bahnhof für La-Chaux-de-Fonds entworfen. Es war das Fach, das er nicht frei wählen konnte, dem er sich aber schon als Student verschrieben hatte. Für die Stadt sah er einen Durchgangsbahnhof vor mit allen Teilen wie Empfangsgebäude, Eilgut, Güterschuppen mit Ladebühnen, zwei Lokomotiv-Schuppen mit Drehscheiben und Kohlelager sowie Aufstell- und Dienstgleisen. In westlicher Richtung führte eine Doppelspur nach Le Locle, in östlicher je eine nach Neuenburg/Biel und nach Les Ponts/Saignelégier. Nach bestandenen Prüfungen durften die Ingenieure am 19. März 1898 in feierlicher Zeremonie in der Aula des «Poly» aus der Hand des Direktors Professor Albin Herzog die Diplome entgegennehmen.

Bahnhof La-Chaux-de-Fonds: Diplom-Arbeit als Entwurf von Charles Andreae (Hochschularchiv ETH Zürich,Hs 1002)

In seinen Lebenserinnerungen betont Charles Andreae, dass «der Monat der Aufnahmen für die topographische Arbeit» zu den schönsten Erinnerungen an seine Studienzeit gehöre. Nach Abschluss des Diploms hätten sich die «Sihlbrugger» nochmals nach Sihlbrugg begeben und beschlossen, dort jedes Jahr im Herbst wieder zusammenzukommen. Mit den Jahren seien dann auch jene aus der Krone Baar dazugekommen, woraus der «Sihlbrugger Kreis» entstanden sei, «ganz ohne jegliche Statuten, nur auf Tradition bestehend». Man habe sich jeweils an einem Samstag zum Nachtessen getroffen, in der Krone übernachtet, am Sonntag durch einen Spaziergang den Appetit zum Mittagessen geweckt und sei abends zur Station Sihlbrugg marschiert. Wie schon zur Studienzeit sei man bei Familie Huber immer sehr gut aufgehoben gewesen und vorzüglich bewirtet worden.

Exklusiv war dieser Kreis nicht gewesen. Schon zur Studienzeit hatten einige der «Korona» ihre anderen Mitgliedschaften gepflegt. Erwähnt werden Studentenverbindungen wie die Zofingia oder der Schützenverein Schweizerischer Studierender sowie kleinere Gruppen als Tourengänger in den Alpen. Impulse kamen aus Mitwirkung im Tourismus, aus Militärdienst und aus Interesse an der Luftfahrt. Ferner hatten sich mehrere schon als Mittelschüler gekannt, vorab von der Kantonsschule Frauenfeld, und sich dann im selben Semester am «Poly» wieder getroffen. In Sihlbrugg gab dies unter ihnen einen besonderen Zusammenhalt. In den späteren Jahren seien am jährlichen Treffen auch «zugewandte Orte» willkommen gewesen.

Der Kurs von 1897 in den persönlichen Erinnerungen der «Sihlbrugger»

Wenn die «Sihlbrugger» erwähnt werden, ist von Freundschaft und Kollegialität die Rede, vor allem von der Treue zu ihrem Kreis über all die Jahre hinweg. Die Zusammenarbeit im Feld schuf gegenseitiges Vertrauen. Das daraus entstehende Werk als selbständig durchgeführte Arbeit begründete ihre gemeinsame Erfahrung. Selbst Studenten, die während des Semesters eher als Einzelgänger auffielen, kamen im Kurs in frohen Kontakt. Erst hier hätten sie sich recht kennen und in ihrer Eigenart schätzen gelernt. Die eher zurückgezogenen unter ihnen erklärten später, dass das jährliche Treffen in Sihlbrugg für sie jeweils der freudigste Tag des Jahres bedeutete. Keiner wollte fehlen und nahm teil, soweit es dienstliche Verpflichtungen oder die Gesundheit zuliessen. Diese Treue zum «Kreis der Sihlbrugger» wurde für sie besonders spürbar, als ihr Kreis immer kleiner wurde. Nicht jeder von ihnen schätzte die Öffentlichkeit. So wünschte Carl Gruber, dass sein Wirken als Ingenieur nicht in einem Nachruf erscheine. Aber er hinterliess seine Vorlesungsnotizen. In fein säuberlich abgefasster deutscher Handschrift harren sie in der ETH-Bibliothek der Transkription (Hochschularchiv ETH Zürich, Hs 1021). Merkwürdigerweise fehlen Hinweise auf den Kursleiter. Doch Eduard Arbenz begann seine Laufbahn als Assistent für Topographie und Geodäsie bei Professor Decher.

Für Vermessung begeistern?

Als Professor Otto Decher sein Lehramt 1890 antrat, wollte er Neuerungen in den erweiterten Lehrkörper einbringen, was ihm nicht auf Anhieb gelang. Als Erklärung mögen Entwicklungen an der Ingenieurschule dienen. Bei der Gründung des Eidg. Polytechnikums war 1855 festlegt worden, dass die fünf Fachschulen je zwei Professuren erhielten, wovon der Chemisch-technischen Schule noch eine dritte zugestanden wurde. Nebenfächer wurden mit Hilfslehrern besetzt. Als Hauptlehrer für die Ingenieurschule konnten Karl Culmann und Johannes Wild gewonnen werden (Oechsli 1905, 177-9). Culmann hatte praktische Erfahrung in den damaligen Ingenieurfächern. So lehrte er Brückenbau, Wasserbau, Strassen- und Eisenbahnbau anfänglich allein und ist heute noch bekannt für seine Entwicklung der «Graphischen Statik». Wild hatte sich schon während des Studiums in Topographie und Geodäsie ausgebildet. Er begann seine Praxis bei der Vermessung von Eisenbahnen und bei Ermittlung der Zürcher Wasserkräfte. Sein bekanntestes Werk ist die Triangulation des Kantons Zürich, was zur «Topographischen Karte des Kantons Zürich» führte. Heute wird oft übersehen, dass Geodäsie in der Ingenieurschule einen integrierenden Bestandteil bildete. Das genaue Zeichnen und die Darstellung der topographischen Aufnahmen verlangten eine Fähigkeit, die zudem bei der graphischen Statik erforderlich waren.

Als Johannes Wild 75jährig von seiner Lehrverpflichtung zurücktrat, war sein Fachgebiet so gross, dass man es aufteilte. Planzeichnen und Kartographie übernahm der bisherige Assistent Fridolin Becker. Für die Geodäsie und Topographie wurde Otto Decher aus München berufen (Kobold 1982, 11-2). Nach Abschluss der Ingenieurschule an der technischen Hochschule München hatte Decher seine Praxis beim Eisenbahnbau erworben, kam dann aber ins Lehrfach zurück als Assistent von Professor Karl Maximilian von Bauernfeind für das Gebiet der Geodäsie. Hier leitete er Feldmessübungen und unterrichtete Vermessung in Erd- und Strassenbau wie auch Katasterwesen und Hydromechanik. Topographie hiess in Deutschland «niedere Geodäsie». Er widmete sich vor allem der «höheren Geodäsie». Davon zeugen verschiedene Publikationen zur Instrumentenkunde, insbesondere zum Nivellieren (Becker 1903).

Trotz dieser seiner Erfahrung hatte Otto Decher in Zürich keinen leichten Einstieg. Seine Ideen eigneten sich nicht ohne weiteres für schweizerische Verhältnisse und für die guten Beziehungen zu den damit vertrauten Ingenieuren. An der Ingenieurschule fand er bei den Studenten anfänglich nur wenig Verständnis. Sie reagierten mit Protesten, worauf der Schulrat eingriff und Professor Decher zur Anpassung des Unterrichts aufforderte. Hierauf antwortete Decher, er wolle die Gebiete der Landesvermessung und des Präzisionsnivellements vertiefen. Gleichzeitig hatte der Schulrat den Ankauf neuer Vermessungsinstrumente bewilligt, was sich auf Unterricht und Übungen günstig auswirkte. Labhardts Kritik zur Tauglichkeit seines Instruments wurde vom Professor nicht angekreidet und darf wohl in diesem Zusammenhang verstanden werden. Zudem wurde so die von Professor Wild angelegte Instrumentensammlung wertvoll erweitert (Kobold 1982, 12). Als Professor war Otto Decher sehr pflichtbewusst und richtete sein Bestreben auf jene Neuerungen aus, die er als richtungsweisend erkannt hatte. Leider musste er 1902 krankheitshalber um Urlaub ersuchen. Möglicherweise lag der Grund in seiner früheren praktischen Arbeit für den Bahnbau in sumpfigem Gelände. Ein Jahr später verstarb er erst 58jährig in Zürich.

Was ist aus den «Sihlbruggern» geworden?

Wenn sich die «Sihlbrugger» ohne Statuten trafen, so waren sie doch über Fachvereine wie den «Schweizerischen Ingenieur- und Architekten-Verein» oder die «Gesellschaft ehemaliger Polytechniker» verbunden. Was an den Treffen besprochen wurde, bleibt mündliche Tradition. Ihr Lebenslauf findet sich im Vereins-Organ, der «Schweizerischen Bauzeitung» (SBZ, verschiedene Jahrgänge). In alphabetischer Reihenfolge seien deshalb die wichtigsten Merkmale aufgeführt. Sie bieten ein reichhaltiges Spektrum. Arnold Altwegg (1874-1939) war Kantonsingenieur von St. Gallen mit Verantwortung für das Strassennetz sowie für Wildbachverbauungen und Flusskorrektionen. Oskar Anderwert (1874-1950) fand seine Berufung als Auslanddirektor der Landis & Gyr in Wien, wo er sich zudem als erste Anlaufstelle der ehemaligen Polytechniker aus Zürich zur Verfügung stellte. Charles Andreae (1874-1964) wurde nach Erfahrungen beim Bau der Simplonbahn Professor für Strassen- und Eisenbahnbau an der ETH, daselbst Rektor, und dann Direktor der Königlich-Technischen Hochschule in Gizeh (Aegypten). Eduard Arbenz (1875-1957) war lange Jahre Kontrollingenieur beim Eidg. Eisenbahndepartement. Alfred Blaser (1874-1943) kümmerte sich als Bahningenieur bei den SBB speziell um Unterhalt im Gleisbau. Otto Bolliger (1876-1960) wurde Sektionschef für Brückenbau bei den SBB. Als Pontonier wurde er Oberst bei den Genietruppen und entwickelte Ersatzbrücken, sei es für den Kriegsfall oder für die Katastrophenhilfe. Alfred Frick (1876-1934) erwarb das Geometerpatent und gründete ein eigenes Ingenieurbüro für kommunale Tiefbauten. Carl Gruber (1876-1939) war als Brücken- und Stellwerkingenieur bei den SBB tätig. Hans Luzi Gugelberg-von Moos (1874-1946) erwarb Praxis im Eisenbahnbau und förderte dann die Luftfahrt, den Tourismus, den Ausbau des Strassennetzes sowie als Oberst des Genie die militärische Befestigung der Schweizer Ostalpen. Adolf Herzog (1874-1928) spezialisierte sich im Stahlbau, erbaute u.a. den Bietschtalviadukt und entwarf neben Hallen auch Schützen für Wehrbauten. Gottfried Keller (1874-1938) wurde Kreisingenieur bei der Baudirektion des Kantons Zürich, wo er in Wetzikon für einen zeitgemässen Ausbau der Strassen eintrat. Eugen Labhardt (1873-1963) wirkte als Kreisdirektor der SBB in Luzern beim Ausbau der Bahnanlagen zwischen Basel und Chiasso. Rudolf Luternauer (1875-1921) leistete Dienst als Bahningenieur in der Ostschweiz und bewältigte Hochwasserschäden. Hans H. Peter (1875-1931) verschrieb sich den Bergbahnen. Vor allem baute er Standseilbahnen, u.a. in St. Moritz und Davos, und hatte einen Lehrauftrag an der ETH. Max Peyer (1874-1905) war Ingenieur an der Albula-Line und bei der Wocheiner-Bahn. Robert von Pfyffer (1873-1938) war Ingenieur in Baku am Kaspischen Meer und dann beratender Experte in Alexandrien. Jakob Schmidt (1876-1947) war Bahningenieur bei den SBB und leitete die Elektrifikation verschiedener Bahnstrecken. Hans Studer (1875-1957) war Bauleiter bei den rhätischen Bahnen (u.a. beim Wiesner Viadukt) und beim SBB-Kraftwerk in Amsteg, danach Inhaber eines eigenen Ingenieurbüros mit Gutachten für Tunnel-, Bahn- und Strassenprojekte.

Im «Kreis der Sihlbrugger» fehlen von einigen weiteren Kollegen die Nachrichten, ebenso von den teilnehmenden Ausländern. Eine Ausnahme ist Immanuel Kölle aus Ebersbach (Württemberg). Als Mitglied der G.e.P. berichtete er in der «Schweizerischen Bauzeitung» über Bau und Betrieb des Weserwehrs bei Bremen. Dessen Zweck war vorab die Regulierung des Grundwasserspiegels. Als Projektverfasser und Bauleiter hatte er dort 1906-1911 erstmals in Deutschland versenkbare Sektorwehre eingebaut (SBZ 23.9.1922, 141-145). Zum «Kreis» hinzu kamen später die «zugewandten Orte», so Hans Etter (1874-1969), der nach dem 1. Jahreskurs das «Poly» verliess und an die TH München zog, dann als Ingenieur in den Dienst der SBB trat und dort schliesslich Generaldirektor wurde (HLS 4, 325). Thematischer Schwerpunkt wurde bei vielen der Eisenbahnbau oder ein naheliegendes Fachgebiet, während ihr Erlebnis des Vermessens im Hintergrund blieb.

Zur Bedeutung der damaligen Vermessungskurse

Die Studenten der Ingenieurschule hielten sich während des Semesters meist in den Hör- und Zeichensälen des «Poly» auf. Deshalb hatten die Feldübungen zur Topographie, beginnend im zweiten Jahreskurs, zusammen mit dem Planzeichnen eine grosse Bedeutung. Die ersten Übungen fanden in der unbebauten Umgebung des «Poly» statt, später in der Allmend Wollishofen. Zur Vollendung der Ausbildung führten die Professoren ihre Studenten durch den mehrwöchigen Vermessungskurs oft in ein voralpines Gebiet wie im vorliegenden Beispiel. Das Ergebnis sollte ein vertrauter Umgang mit den vermessungstechnischen Methoden werden, um die Aufnahmen in einem topographischen Plan aufzuzeichnen. In der Festschrift zur ETH von 1955 schreibt Professor Fritz Kobold, seit 1947 zuständig für Geodäsie: Der Vermessungskurs «wird nicht nur wegen der erworbenen Kenntnisse für jeden ehemaligen Studenten zur bleibenden Erinnerung, sondern ebensosehr wegen der gemeinsam durchgeführten Arbeit, die nicht selten das erste Erlebnis der Ingenieurtätigkeit bildet.» (ETH 1955, 506)

Offenbar lag im Vermessungskurs von 1897 noch mehr drin als das gemeinsame Erarbeiten eines Werks. Die «Sihlbrugger Corona» hatte mit ihrem jährlichen Treffen auch die andere Hälfte des Kurses aus der «Baarer Krone» angezogen. In Baar hätten sie es «auch ganz wohl gehabt, wenn auch nicht ganz so wie in Sihlbrugg», schreibt Charles Andreae, und sie hätten Stamm gehalten «auf dem Dorfplatz vor der Krone». Vermutlich liegt in solchen Erlebnissen ein Grund, nach dem Abschluss des Studiums nochmals nach Sihlbrugg zu fahren und dieses Treffen später zur Tradition werden zu lassen. So ist es zu einem jährlichen Gedankenaustausch gekommen, der den Lebensweg gegenseitig beeinflusst haben mag. Bemerkenswert ist, dass selbst persönliche Schicksalsschläge in der Fachzeitschrift ausgedrückt werden, was bei vielen ähnlichen informellen Treffen kaum geschieht.

2.8.2023 / B.M.

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