Der Ingenieurbau hat eine neue Kunstrichtung begründet. Sie ist vergleichbar mit Architektur oder Bildhauerei, doch sie entwickelte sich als Folge der Industriellen Revolution seit dem 19. Jahrhundert völlig unabhängig von ihnen. Ihre besten Werke wurden aus dem Empfinden und aus der Vorstellungskraft des Ingenieurwesens heraus geschaffen. Damit verbunden ist ein reiches Erbe an geistigen Leistungen, das anderen Kunstrichtungen gleichkommt. Dies ist – kurz gesagt – die These von David P. Billington (1927-2018). Sie betrifft das Bauingenieurwesen allgemein und stellt hervorragende Werke und ihre Schöpfer ins Rampenlicht. So kann sie als Einführung ins Konstruieren dienen und leistet einen Beitrag zum Ansehen der Bauingenieure.
Zwei Symbole: Eiffelturm und Brooklyn-Brücke
Merkmale der neuen Kunstrichtung sind drei Ideale: Technische Leistungsfähigkeit, Wirtschaftlichkeit und Eleganz. Wohl kann jedes Gebäude daran gemessen werden, wie es diesen drei Anforderungen nachkommt, doch ausschlaggebend ist die Gewichtung. Und dies geschieht beim Entwerfen. Das Besondere guter Ingenieurarbeit liegt nun darin, dass sie zwar alle drei im Auge hat, doch ihre Konzepte in erster Linie auf technische Leistungsfähigkeit ausrichtet.
Beim Entwurf sind die Ingenieure gebunden an die Naturgesetze und an die wirtschaftliche Kraft ihrer Auftraggeber, an gängige Herstellungsverfahren und an die Konkurrenz. Es ist selbstverständlich, dass sie sich innerhalb dieser Grenzen an das ökonomische Prinzip halten, d.h. sie streben danach, Ertrag und Aufwand zu optimieren, sowohl finanziell wie materiell. Was daraus entsteht, sind allerdings noch nicht unbedingt Kunstwerke, denn der Satz, ästhetische Qualität folge aus dem statisch Richtigen, lässt sich leicht widerlegen. Entscheidend ist vielmehr, ob die Bauingenieure – so Billington – trotz dieser zwingenden Auflagen einen persönlichen Freiraum wahrnehmen und sich mit ihrer Arbeit bewusst auf einen künstlerischen Gestaltungsprozess einstellen.
Billington leitete seine These nicht aus einer Kunsttheorie ab. Er war Professor für Bauingenieurwesen und unterrichtete an der School of Engineering in Princeton (USA). Stattdessen forderte er, Leben und Werke hervorragender Ingenieure zu studieren. Er traf eine Auswahl, um die Ergebnisse als eine der Grundlagen von Ingenieurarbeit zu vermitteln. Wichtigster Zeuge war für ihn anfänglich der Schweizer Robert Maillart (1872-1940). Hinweise von Studenten auf dessen Werke, auf ihre Schönheit und ihre technischen Reize, hatten ihn zu gezielten Nachforschungen veranlasst (Billington 1979).
Billington stellte fest, dass es eine grosse Gruppe von Bauwerken gebe, die parallel und unabhängig von der Architektur geschaffen wurden. Er benutzte zwei markante Beispiele: den Eiffelturm in Paris und die Brooklyn-Brücke über den East River in New York. Beide wirken in der Öffentlichkeit als starke Symbole. Diese Tatsache erhellte er aus historischer Sicht, indem er seine Auswahl auf die Zeit seit der Industriellen Revolution bezog. So hatten die technischen Umwälzungen, die Ende des 18. Jahrhunderts in England einsetzten, einschneidende Folgen für das gesamte Bauwesen. Im 19. Jahrhundert wurde Eisen – später auch Stahl und Beton – als Baustoff neuartig verwendet, und dazu brauchte es besondere Fachleute. Zudem wurden damals im Ingenieurwesen neue Disziplinen gebildet und Berufsvereinigungen gegründet. Wer bisher als Ingenieur bezeichnet wurde, grenzte sich im deutschsprachigen Raum zunehmend ab als Bauingenieur oder präzisierte sich als Zivilingenieur im Unterschied zur militärischen Herkunft.
Mit seiner These wirkt Billington noch heute in zwei Richtungen: Nach aussen erinnert er die Oeffentlichkeit daran, dass die Ingenieurbauten einen wesentlichen Teil jeder Zivilisation bilden, und nach innen stärkt er dem Bauingenieurwesen über den historischen Zugang das Selbstbewusstsein. Jede bauliche Infrastruktur hat eine öffentliche Funktion. So sind beispielsweise die Brücken ein ebenso kräftiges Zeichen des öffentlichen Lebens wie Kirchen, Theater oder Rathäuser. Doch nach moderner Einschätzung gehören sie bloss noch zur technischen Infrastruktur. Man betrachtet sie als Teil von Technik, wo sie zurzeit nicht jenen Stellenwert haben, der ihnen eigentlich zusteht. Andere Bereiche wie Informatik oder Biotechnologie werden bei solchen Vergleichen höher eingeschätzt. Bildlich ausgedrückt: „Schon die Kinder können heute mit dem Computer umgehen, während die Erwachsenen auf den Strassen zwischen Schlaglöchern zirkulieren müssen.“ Offensichtlich vernachlässigt man die Ingenieurbauten – so Billingtons Diagnose der nordamerikanischen Verhältnisse – zugunsten von High-Tech. Man vergisst, was zu jeder Zivilisation gehört und worauf man die eigene, heutige Gesellschaft einmal gebaut hat.
Diese Entwicklung bedeutete einen Bruch mit dem Bisherigen, kündigte aber gleichzeitig eine neue Tradition an. Die Bauingenieure schufen neuartige Konstruktionen, die in den Ingenieurbauten ihre Ausprägungen fanden und selbst innerhalb des Bauingenieurwesens eindrucksvolle Merkmale darstellen. Das zugehörige Können reicht bis in unsere Gegenwart. Billington nannte es „The New Art of Structural Engineering“. Er zeigte es auf anhand von Persönlichkeiten aus dem Ingenieurwesen. Ihre besten Werke veröffentlichte er in seinem Buch „The Tower and the Bridge“ (Billington 1983).

Bei seiner Auswahl begann Billington mit eigenen Studien von eindrucksvollen Ingenieurbauten, die er in zahlreichen Publikationen veröffentlichte. Dahinter lag immer die methodische Absicht, den Grundlagen von Ingenieurarbeit nachzuspüren und sie zu vermitteln. Zusammenfassend machte er sie zu einem Teil der Ausbildung an technischen Schulen.
Einführungskurs in Konstruktion
Konstruktionen können von verschiedenen Standpunkten aus beurteilt werden, ebenso lässt sich auch das Konstruieren auf unterschiedlichste Arten vermitteln. Billingtons didaktischer Weg führt über bekannte Werke, verbunden mit dem Denken ihrer Konstrukteure. Beschränkt auf die Zeit seit der Industriellen Revolution, zeigt er, dass sich nur schon daraus ein grosser Reichtum an Kreativität zu Tage fördern lässt.
Im Zentrum steht die Vielfalt an Konstruktionsformen bei Hoch- und Tiefbauten, die in den vergangenen gut 200 Jahren entstanden sind. Die Studenten sollen sich bereits zu Beginn mit den vielen Möglichkeiten des Konstruierens auseinandersetzen. Zur Beurteilung wählt Billington nun drei Perspektiven: die technisch-wissenschaftliche mit Betonung der Leistungsfähigkeit, die gesellschaftlich-wirtschaftliche im Hinblick auf Ausführung und Unterhalt sowie die symbolische, wo das Erscheinungsbild und dessen Bedeutung für die Oeffentlichkeit im Vordergrund stehen. Er zeigt sie auf anhand von 22 Lebenswerken, die als Klassiker im Bauingenieurwesen gelten. Durch vergleichende Untersuchungen soll die Fähigkeit geschärft werden, Tatsachen von Interpretationen zu unterscheiden und eigene Meinungen zu äussern. Darunter befinden sich vier Schweizer: Robert Maillart (1872-1940), Othmar H. Ammann (1879-1965), Heinz Isler (1926-2009) und Christian Menn (1927-2018). Diese Auswahl sollte noch vertieft werden und 2003 zu einer Ausstellung in Princeton führen (Billington 2003).
Billington unterrichtete diesen Stoff ab 1974 als Einführungskurs. Während der Dauer eines Semesters vermittelte er einerseits eine bildliche Darstellung anhand von Diapositiven und andererseits die Kenntnis von zugehörigen, elementaren statischen Überlegungen. Die Studenten erarbeiten einzelne Konstruktionen als Fallstudien für eine mündliche und schriftliche Präsentation, die geprüft und als Teil ihres Studiengangs bewertet werden (Billlington 1994).
Dieser Kurs verspricht nicht, den Studenten das Konstruieren beizubringen. Wohl aber eröffnet er den nötigen Horizont, indem er die Messlatte bei guten Konstrukteuren ansetzt. Und vor allem verhindert er eine einseitige Betrachtung der Ingenieurbauten, indem er mindestens drei Perspektiven einführt. Zweck, Notwendigkeit, Berechenbarkeit und Sicherheit gehören wohl zu den technischen Merkmalen einer guten Konstruktion, sie sind aber nicht die einzigen. Soziale Verträglichkeit und ästhetische Wirkung sind ebenso wichtig.
Billington vermittelt auch nicht das weite Feld des Bauingenieurwesens insgesamt, denn er betrachtet Einzelbauten. „Structural engineering“ – als „Konstruktiver Ingenieurbau“ einigermassen treffend übersetzt – umfasst lediglich den Brückenbau und den Hochbau bzw. dessen Tragwerke. Doch bereits dieser Ausschnitt enthält ein Potential, um das Wesen von Ingenieurarbeit aufzuzeigen und mit anderen Kunstrichtungen zu vergleichen.
Wenn Bauingenieure konstruieren
Motiviert war Billington vom Wirken hervorragender Bauingenieure. Auf der Ebene von Einzelbauten setzte er zu einem internationalen Vergleich an und hob jene öffentlichen Werke hervor, bei denen die Bauingenieure in eigener Kompetenz entwarfen. Als Beispiele nahm er führende Vertreter im Grossbrückenbau und fand einige Gemeinsamkeiten. Auffallendes Ergebnis ist, dass jeder von ihnen in einer geographisch klar begrenzten, bemerkenswert kleinen Region tätig war. Jeder verfügte über genaue Ortskenntnisse einschliesslich der politischen Voraussetzungen und der lokalen Bautechnik. Man denke an die Besonderheit der Baustoffe und Gerüste, bei den Tragwerken insbesondere an die Lehrgerüste und ihre Erbauer. Diese Bautechnik hatten sie sich entweder zuvor durch eigene Praxis als Bauunternehmer oder durch eigene Studien der Bauausführung erworben und immer in ihre Entwürfe integriert. Deshalb entstanden ihre Meisterwerke erst in reiferen Lebensjahren, denn sie stützten sich auf eigene Erfahrungen mit ausgeführten Bauten, die sie selbst entworfen hatten.
Diese Meisterwerke wurden rasch zu Wahrzeichen ihres Standorts, sei es in der Stadt oder in der Landschaft. Sie machen das Erscheinungsbild unverwechselbar, was nicht nur Laien bemerken, sondern auch Kunstmaler und Photographen, wenn diese sie als Sujets benützen, oder Designer für die Werbung und Briefmarken. Darin spiegelt sich die individuelle, persönliche Haltung, die ihre Projektverfasser beim Entwurf eingenommen hatten.
Beim Entwurf von der Technologie beseelt zu sein heisst eben nicht, die Naturgesetze studieren und mechanisch anwenden zu wollen. Vielmehr ermöglicht es ein schöpferisches Vorgehen, als Ingenieur innerhalb der Disziplin den persönlichen Freiraum zu erkennen und bewusst eine individuelle Wahl zu treffen, die sich am eigenen Empfinden orientiert. Bei den ausgewählten Bauingenieuren nennt Billington drei Merkmale, die ihm gemeinsam scheinen: alle waren sie an Ingenieurschulen ausgebildet. Beim Entwerfen waren sie auf Zusammenarbeit angewiesen, sei es mit den Bauherren, anderen Ingenieuren, Architekten oder mit Unternehmern. Dazu gehörte ein gewisser Druck aus der Auseinandersetzung und ihr Bestreben, den Entwurf dann als gebaute Konstruktion wahrnehmen zu können. Alle hatten schliesslich die Fähigkeit und waren bereit zu einer Arbeit mit Blick auf den öffentlichen Dienst und auf das Gemeinwohl.
Bei Billington geht es also um Ingenieure, welche beim Bauprozess die Stellung des Architekten einnehmen, ohne selbst Architekt zu sein. Sie entwerfen, indem sie für ein Bauwerk als Ganzes verantwortlich zeichnen, allerdings autonom in zweierlei Beziehung: gegenüber den Architekten und gegenüber dem überlieferten Handwerk. Erst unter diesem Aspekt kann man den Versuch wagen, von einer neuen Kunst, der «structural art» zu sprechen. Ingenieurarbeit wird dargestellt als eigenständige kulturelle Leistung, die eine neue Gestaltqualität erreicht – nicht berufsfremd, sondern aus dem eigenen Schaffen heraus. Und trotzdem steht sie in direkter Beziehung zur Technik der Herstellung. Jeder grosse Konstrukteur ertastete nachgewiesenermassen den jeweiligen Stand der Technik und ging über ihn hinaus. Daran zu erinnern, macht Freude und weist auf den Kern des Bauingenieurwesens.
3.2.2022 / B.M.