An Ingenieur Pietro Morettini (1660-1737) erinnert in Locarno der “Palazzo Morettini” aus dem 18. Jahrhundert, worin sich heute die Kantonsbibliothek befindet. Es war sein Wohnhaus, doch sein Wirken und seine Projekte sind in Mitteleuropa zu finden. Lange vergessen, gelegentlich noch bekannt als Erbauer des «Urnerloch», ist er ein Ingenieur, der grosse praktische Erfahrung auf zahlreichen Kriegsschauplätzen erwarb und zu Chefposten beim Bau von Befestigungen gelangte, ohne aber sein Wissen zur militärischen Bautechnik in theoretischen Schriften zu hinterlassen. Umso wertvoller ist es, dass die Daten und Fakten aus verschiedenen Quellen in einer ausführlichen Biographie ausgewertet sind (Viganò 2007).
Sein Leben im Überblick
Im kleinen Dorf Cerentino im Maggiatal geboren, wuchs Pietro Morettini in bescheidenen Familienverhältnissen auf. Im Alter von 17 Jahren zog er mit seinem Vater, einem Steinmetz, nach Besançon. Dort wurden die beiden bei der Fertigstellung der Zitadelle angestellt, er lernte die Bautechnik. 1687 war er als Unternehmer beim Bau der Festung Landau in der Pfalz tätig, wo er anschliessend seine Karriere als «Ingenieur» fortsetzte. In diesen Jahren hatte er vermutlich an verschiedenen Belagerungen teilgenommen, sicher aber 1692 an jener von Namur, die von Sébastien le Prêtre de Vauban (1633-1707) geleitet wurde. In dieser Stadt gründete er mit Marie-Rose Ronchan aus Luxemburg seine Familie, welcher 12 Kinder entspriessen sollten. Als Namur 1695 von den Spaniern belagert und unter Menno von Coehoorn (1641-1704) zurückerobert wurde, ging Morettini in den Dienst von Wilhelm III. von Oranien. Er blieb in Namur und arbeitete während dreier Jahre als Unternehmer am Wiederaufbau. 1698 erhielt er das Patent eines «Ingenieurs der Generalstaaten». Generalleutnant Coehoorn befahl ihn zur Befestigung der Plätze Bergen op Zoom, Grave, Nijmegen und Steinbergen, alle zu den Sieben Vereinigten Provinzen gehörend. Nach Ausbruch des Spanischen Erbfolgekriegs kehrte er 1703 mit seiner Familie in den Tessin zurück und nahm Wohnsitz in Locarno.
In seiner engeren Heimat etablierte er sich durch den Bau des eigenen Wohnhauses und mit kulturtechnischen Arbeiten in der Umgebung. Im Auftrag des Kantons Uri ersetzte er in der Schöllenenschlucht den «stiebenden Steg» durch einen Tunnel, «Urnerloch» genannt (1707-08). Obwohl nur 64 m lang, sollte dies der erste Durchstich in den Schweizer Alpen sein und den Erbauer unvergesslich machen. Im Vorfeld des Zweiten Villmergerkriegs (1712) verfasste Morettini Projekte für moderne Befestigungen im Auftrag der katholischen Orte. Gleichzeitig bewarb er sich um eine Stelle als Ingenieur bei den Städten Mailand, Venedig und Moskau, allerdings ohne Erfolg. Als der Kriegsrat von Genua 1713 einen «ingegnere direttore» suchte, sandte er eine Bewerbung ein, begann Verhandlungen und wurde 1717 unter Vertrag genommen, und zwar als «Erster Ingenieur und Direktor der Befestigungen im Rang eines Obersten». Nach seinem Gesuch um Entlassung kehrte er 1737 nach Locarno zurück, wo er kurz darauf verstarb.

Der Kampf um Frankreichs Vormachtstellung
Die Orte, an denen Morettini im Alter von 17 bis 43 Jahren tätig war, erfordern einen Blick auf die Territorialpolitik Frankreichs, insbesondere auf die Entwicklungen an der Ostgrenze, denn dort hatte er seinen Namen als Ingenieur erworben. An jenen Orten führte König Ludwig XIV. bekanntlich mehrere Kriege im Bestreben nach Frankreichs Vormachtstellung. Begründet wurden sie als «Reunionspolitik» und ausgetragen zu Land und zur See. Mit dem Rhein als Ziel zog er gegen die spanischen Niederlande (das heutige Belgien) und in die Freigrafschaft Burgund (1667-68). Nach dem Frieden von Aachen musste er die Freigrafschaft an Spanien zurückgeben, konnte aber im Nordosten zwölf eroberte Städte behalten. Vier Jahre später zog er gegen Holland und drang bis Utrecht vor. Im Frieden von Njimegen (1679) musste Spanien die Freigrafschaft und zwölf weitere Städte an Frankreich abtreten. Nun erhob Ludwig XIV. seine Ansprüche im Elsass. Er besetzte die reichsfreie Stadt Strassburg (1681), liess in Flandern kämpfen und Luxemburg annektieren (1684). In diesem Jahr griff er mit seiner Kriegsflotte auch Genua an, weil es als spanienfreundlich galt und Schiffe für Spanien baute.
Nach dem Tod des kinderlosen Kurfürsten von der Pfalz setzte Ludwig XIV. seine Expansionspolitik, begründet durch Erbanspruch, militärisch durch. 1688 liess er seine Truppen in die Pfalz einmarschieren, welche Städte wie Worms, Speyer, Heidelberg und Mannheim zerstörten. Die angegriffenen Mächte bildeten Allianzen. Ausser dem Kaiser standen dem französischen König die Niederlande, England, Schweden, Spanien und Savoyen gegenüber. Einer der führenden Gegner war Wilhelm III. von Oranien, der Statthalter der Niederlande. 1688 wurde er mit seinen Truppen nach England gerufen und ein Jahr später dort zum König gekrönt. Den Versuch Ludwigs XIV. in England zu landen, konnte er abwehren. Im Frieden von Ryswyk (1697) musste Frankreich den Rhein als Grenze anerkennen, erhielt aber das Elsass samt Strassburg.
Nach dem Tod des letzten Habsburgers in Spanien, König Karl II., waren seine Thronfolge und sein Erbe umstritten. Eingesetzt hatte er Philipp V., einen Enkel von Ludwig XIV., womit die österreichischen Habsburger nicht einverstanden waren und was den Spanischen Erbfolgekrieg (1701-14) auslöste. Erneut hatte sich eine Allianz von Kaiser, England und den Niederlanden gebildet. Beim Ausgang der Kriege gingen die Spanischen Niederlande, das Herzogtum Mailand sowie die Königreiche Neapel und Sardinien an das Haus Habsburg-Österreich. Frankreich konnte seine starke Position halten, war nicht mehr von Habsburgern eingekreist, hatte aber eine starke Schuldenlast zu tragen.
Morettini auf den festen Plätzen der Franzosen und Spanier
Als Morettini mit seinem Vater Filippo nach Besançon kam, war die Stadt seit drei Jahren unter französischer Herrschaft und zur Hauptstadt der Freigrafschaft Burgund erklärt worden. Zwecks Ausbaus der Befestigung war die Zitatelle seit 1676 nach Plänen von Vauban im Bau. In dieser Zeit nahm Morettini wahrscheinlich an der Belagerung von Strassburg teil (1681), später auch an den Zerstörungen der Festungen von Courtrai und Dixmunde in Flandern (1683) sowie an der siegreichen Belagerung von Luxemburg (1684). Das elsässische Landau in der Pfalz gehörte seit 1680 zu Frankreich. Dort wirkte Morettini 1687 als Unternehmer an der Festung, die nach Plänen von Vauban erbaut wurde, und wo sein Vater vermutlich 1689 verstorben ist.
Nach Ausbruch des Pfälzischen Kriegs nahm er 1688 wahrscheinlich an den Belagerungen von Philippsburg, Mannheim und Frankenthal teil, ebenso 1691 an jener der Stadt Mons (Bergen in Hennegau). Unter Vauban beteiligte er sich 1692 an der siegreichen Eroberung von Namur und blieb an diesem Platz zum Wiederaufbau der Zitadelle. Möglicherweise war er 1693 auch bei der Belagerung von Charleroi dabei. Trotz französischer Verteidigung gelang 1695 unter Generalleutnant Coehoorn die Rückeroberung für die spanischen Niederlande. Morettini verliess das französische Heer und trat in den Dienst von Wilhelm III. von Oranien. Umgehend erhielt er in Namur unter Coehoorn Aufträge für Reparaturarbeiten, die weitere zwei Jahre dauerten und ihn als «Jngegniere ordinario» der Sieben Vereinigten Provinzen qualifizierten.

Nun im Dienst der Vereinigten Provinzen arbeitete er unter Menno von Coehoorn an den Befestigungen der Plätze Bergen op Zoom, Steenbergen und Grave (Brabant), sowie Njimegen (Gelderland). Am 10. November 1701 ernannte ihn Wilhelm von Oranien III. zum «Generaldirektor der Belagerungen und Festungen“. Nach Ausbruch des Spanischen Erbfolgekriegs nahm er 1702 mit General Coehoorn noch an der Belagerung des französisch besetzten Liège teil, bevor er mit seiner Familie nach Locarno zurück in die Schweiz reiste.
Locarno anfangs des 18. Jahrhunderts
Als sich Pietro Morettini in Locarno (deutsch: Luggarus) etablierte, galt der Ort als «ein grosser, lustiger und wolgebauter Fleken und Haupt-Ort der gleich vorbeschriebnen Landvogtey» am oberen Ende des Lago Maggiore (H.J. Leu in «Allgemeines Helvetisches/Eydgenössisches/oder Schweizerisches Lexicon», Zürich 1757, Vol 12, S. 185). Regiert wurde er von den drei Korporationen des Adels (Nobili), der Bürger (Borghesi) und der Landsassen (Terrieri). Die Landeshoheit lag seit der Eroberung 1503 bei den Eidgenossen als eine Gemeine Herrschaft. Die Gerichtsbarkeit unterstand einem Landvogt der XII Orte, der alle zwei Jahre wechselte. Er residierte im Schloss der Visconti, dessen Befestigungen die Eidgenossen 1531 geschleift hatten (HLS 8, 2-3). Der Flecken mit etwa 4’800 Einwohner hatte sich dank dem Nord/Süd-Verkehr zu einem blühenden Handelszentrum entwickelt. Im 16. Jahrhundert sank jedoch die Einwohnerzahl, vor allem aus drei Gründen: Als 1515 bei Bellinzona die Brücke Torretta über den Tessin von einem Hochwasser weggerissen wurde («Buzza di Biasca». Vischer 2003, 139), entwickelte sich im Transitverkehr das gegenüberliegende Magadino zum wichtigeren Umschlagplatz am See. Als Folge der Glaubensspaltung wurden 1555 die Reformierten ausgewiesen, was den Wegzug von unternehmerisch denkenden Familien zur Folge hatte. Ein weiterer Verlust verursachte die Pest, u.a. in den Jahren 1576/77. Dank Grundbesitz und Weidrechten in der Magadinoebene sowie in den benachbarten Tälern konnte sich der Flecken erholen, machte aber nicht jedem Reisenden einen erfreulichen Eindruck (INSA 6, 42). Anfangs des 18. Jahrhunderts zählte er wieder etwa 3’500 Einwohner und erlitt dann nochmals einen erheblichen Bevölkerungsrückgang (HLS 8, 1).

Morettini im Dienst der Eidgenossen
Gleich nach seiner Ankunft in Locarno schlug Morettini dem prominentesten Bürger, Baron Carlo Francesco Marcacci, vor, den Ort mit einem neuen Kanal zum Lago Maggiore zu verbinden und mit einem neuen Hafen die lokale Wirtschaft zu fördern. Er hatte die Absicht, seine berufliche Kompetenz zum Nutzen der Gemeinschaft unter Beweis zu stellen und seine Familie in das gesellschaftliche Netzwerk hinein wachsen zu lassen. Deshalb engagierte er sich bei der Eindämmung der Maggia im Mündungsgebiet. Neben landwirtschaftlicher Nutzung ging es um Mühlen und Sägereien. Dies war eine heikle Aufgabe und verwickelte ihn in Streitigkeiten. Seine wasserbaulichen Massnahmen betrafen die Rechte der Körperschaften linksufrig von Locarno und Solduno sowie rechtsufrig von Ascona und Losone. Gleichzeitig war er durch eigenen Grundbesitz privat daran interessiert. Eine Lösung auf dem Maggiadelta sollte sich sich allerdings erst im 19. Jahrhundert ergeben. Bei Bellinzona hingegen erstellte Morettini 1715 einen Plan für den Auslauf des Dragonato in den Tessin, der drei Jahre später bei der Tagsatzung die Zustimmung fand (Viganò 2005).
Ein neuer Kanal für Locarno war für die lokalen Potentaten zu revolutionär, obwohl der Urheber als «Ingenieur» einen klingenden Namen hatte und in grösseren Zusammenhängen dachte. 1704 erhielt Morettini aus den Niederlanden die Anfrage, als Generaldirektor der Festungen die Nachfolge des verstorbenen van Coehoorn zu übernehmen. Er begab sich auf die Reise, änderte dann aber seine Meinung und kehrte in Basel wieder um. Dieser Posten sollte für fünf Jahre unbesetzt bleiben, bis ihn Guillaume le Vasseur de Roques (1668-1730) antrat, der dann 1714 für den Ausbau der Stadtbefestigung nach Genf berufen wurde. 1706 begann Morettini Verhandlungen über einen ähnlichen Posten in Mailand. Gleichzeitig reiste er auf eine Anfrage von Venedig zu einem Vorstellungsgespräch nach Chur, ohne dass es zu einer Ernennung kam. Ein Jahr später erhielt er von Peter I. das Angebot für einen Dienst in Moskau, was er allerdings ablehnte.

Mit grosser Wahrscheinlichkeit war Morettini bereits 1703 in den Dienst des Kriegsrats von Luzern getreten, wo er bis 1715 bleiben sollte. Es ging um die Kriegsvorbereitungen der katholischen Orte innerhalb der Eidgenossenschaft, angespannt durch den Kampf um die Vormachtstellung, um konfessionelle Auseinandersetzungen und um unterschiedliche Aussenpolitik. 1708 legte Morettini in Luzern den Plan für neue Befestigungen in Rapperswil vor, 1709 folgten jene für Sursee, Bremgarten, Baden, Willisau und Mellingen. Dazwischen inspizierte er die Städte Freiburg und mehrmals Solothurn (Schubiger 1999). 1710 entwarf er für den Kanton Uri bei Wassen die «Meienschanz», eine Feldbefestigung als Abwehr gegen die Berner auf der Urnerseite des Sustenpasses (Mittler 1988, 145-8). Zum Krieg kam es 1712, ausgelöst durch die Toggenburger Wirren und beendet nach einem Sieg der Berner und Zürcher Truppen. Das unterlegene Luzern dachte nun an eine Modernisierung seiner Befestigung, beauftragte Morettini und erhielt von ihm zwei Jahre später noch zwei Projekte, ohne dass sie aber ausgeführt wurden (Reinle 1951).

In diesen Jahren erfüllte Morettini ausserdem zwei zivile Aufträge. Gemäss Vertrag mit der Obrigkeit von Uri hatte er im Herbst 1707 den Tunnelbau in der Schöllenen begonnen und die Arbeiten nach 10 Monaten abgeschlossen. Das Bauwerk – «Urnerloch» genannt – war 64m lang mit einem Querschnitt, der für Saumtiere ausreichte. Heute ist der Zustand im Original nicht mehr sichtbar, da diese Stelle im Zuge des Strassenbaus erweitert und mit Schutzgalerien verlängert wurde. Ein zweiter Auftrag betraf die Verbindung des Tessin mit dem Kanton Wallis. Auf Anregung von Hauptmann Giovanni Franzoni (1659-1729) rekognoszierte Morettini 1710 das Val Lavizzara, um einen Saumweg durch das Valle di Peccia, über den Naret-Pass ins Bederetto-Tal und von dort über den Nufenen nach Ulrichen zu entwerfen. Dieser neue Verkehrsweg, von den Niederlanden nach Genua gedacht, sollte auch Bern interessieren, wurde aber als Konkurrenz zum Gotthard von den Orten der Zentralschweiz strikte abgelehnt. In diesem Zusammenhang machte Morettini eine Beratung bei der Ableitung der Kander in den Thunersee (Vischer und Fankhauser 1990). Über seinen Beitrag ist aber nur wenig überliefert.

Genua – Republik im Wohlstand dank Seefahrt und Handel
Seinem Wunsch nach einer einträglichen Stellung entsprechend hatte sich Morettini 1713 beim Kriegsrat von Genua als «Ingegnere direttore» beworben und sich im Februar des folgenden Jahres persönlich vorgestellt, ohne dass es unmittelbar zu einer Anstellung kam. Nach seiner Entlassung in Luzern erhielt Morettini 1716 von Papst Clemens XI. den Auftrag für die Trockenlegung von Sümpfen des unteren Po in der Nähe von Ravenna. Ende Jahr war er zurück in Locarno und inspizierte das erwähnte Gebiet des Dragonato bei Bellinzona. Nach einer erneuten Vorstellung in Genua im Sommer 1717 trat er im Herbst mit dem Titel «Erster Ingenieur, Direktor der Befestigungen und Oberst» in den Dienst der Republik, der zwanzig Jahre dauern sollte.
Der Stadtstaat Genua war seit dem Mittelalter eine Republik, die sich gegen wechselnde Vorherrschaften behauptet hatte. Sein Gebiet lag an der Küste des Ligurischen Meers und war militärisch mit festen Plätzen gesichert. Es erstreckte sich nach Westen bis Ventimiglia (Riviera ponente), nach Osten bis La Spezia (Riviera levante) und nach Norden über den Appennin (Oltregiogo). Es war umgeben von den Herzogtümern Savoyen-Piemont, Mailand und Parma. Seit dem 13. Jh. gehörte auch die Insel Korsika dazu. Genua war eine der mächtigen Seerepubliken. In Konkurrenz zu Venedig hatte es Handelswege vom Mittelmeer bis ins Schwarze Meer aufgebaut und dort eigene Kolonien gegründet. Im Kampf um die Vorherrschaft hatte es Pisa bezwungen (1133), war aber Venedig unterlegen (1381) und verlor im Osten an Einfluss. Eine Kompensation in Richtung Westen brachte die Entdeckung der Neuen Welt. Damit verbunden war ein einträgliches Geschäft, das Genua im 17. Jh. zu einer der reichsten Städte in Europa machte. Zahlreiche prunkvolle Paläste zeugen davon.

Einen dominierenden Einfluss hatte die Banco di San Giorgo. 1407 von Genueser Familien gegründet, übernahm sie zeitweise politische Aufgaben, wie z.B. ab 1453 die Herrschaft über Korsika. Sie gehörte zu den Geldgebern von europäischen Regenten, was Genua zu einer Machtstellung als Finanzplatz verschaffte, so dass es auf den Weltmeeren im Seehandel mit den Niederlanden und mit England konkurrierte. Politisch war der Stadtstaat wiederholt in Streitigkeiten mit den Nachbarn und mit Frankreich verwickelt, blieb aber souverän und meist an der Seite von Spanien. So erlebte er zu Beginn des 18. Jh. eine Zeit der Ruhe und des Wohlstands. Trotzdem war er bestrebt, sein Territorium zu verteidigen, und hatte die Befestigungen laufend ausgebaut, so dass sie unbezwingbar erschienen. An der Küste und auf der Landseite der Republik lagen befestigte Städte, die Genua erobert oder erworben hatte und so die Verkehrswege kontrollieren konnte. Seine Riviera ponente war allerdings unterbrochen vom Marquisat di Finale, das zu Spanien gehörte, und von der selbständigen Seerepublik Noli. Die Stadt Genua selbst und ihr Hafen waren seit 1634 mit der «Mura nuove» umgeben. Diese grosszügig geplante Verteidigungsanlage führte vom Monte Peralto (489 m ü.M.) über die Kreten zweier Hügelzüge von je 6 km Länge ans Meer hinunter. Oben befindet sich Forte Sperone. Von dort verlief die Stadtmauer auf dem westlichen Grat bis zum Leuchtturm und östlich zur «Mura vecchie» an das Ufer des Bisagno. Von dessen Mündung bis zum Leuchtturm war die Stadt seeseitig entlang des Hafens ebenfalls abgeschlossen und nur durch Tore zugänglich.
Oberbauleiter der Befestigungen als erster Ingenieur der Republik
Als Morettini seinen Dienst in Genua antrat, bestand kein Druck infolge internationaler oder innenpolitischer Ereignisse, welche notfallmässiges Eingreifen erfordert hätten (Viganò 2007, 172). Andauernde Unsicherheiten und militärische Bedrohungen hatten die Republik aber veranlasst, eine technische Organisation aufzustellen, die in der Lage war, die Befestigungen für den Fall von Angriff und Verteidigung jeweils auf den neusten Stand zu bringen. Zur Leitung berief sie dazu seit Ende des 17. Jahrhunderts namhafte Ingenieure, so Giovanni Bassignani (1653-1717), Gherardo de Langlade (+1722), Pietro Morettini, Patrizio Geraldini und Jacques de Sicre (?1691-1757). Weil sie alle im Ausland gesucht werden mussten, wollte Genua 1713 eine Schule für die Ausbildung von Ingenieuren aus den eigenen Reihen errichten (Forti 1992, 7).
Befohlen wurde Morettini direkt vom Senat, vom Kriegsrat oder von der Grenzkommission. Kurz zusammengefasst wirkte er an folgenden Orten: von 1718-22 in Savona, Korsika und La Spezia; von 1723-26 in La Spezia; von 1727-30 in Savona, Gavi und im Apennin; von 1730-36 an den Genueser Grenzen im Apennin, an der Küste und in Genua selbst (Viganò 2007, 149).
Vor Savona stand Priamàr, die wichtigste Festung der Republik. Sie liegt etwa 50 km westlich der Hauptstadt an der Küste. Genua hatte sie dort 1542 nach der Eroberung der Stadt errichtet. Abbrechen oder nicht? – das war seit 1684 nach dem Angriff von Frankreich eine langwierige Diskussion, bis sich der Senat 1717 zur Modernisierung entschloss. Deshalb wurde Morettini gleich nach seiner Ankunft mit der Inspektion und Planung beauftragt. Sein Vorschlag zum Bau und zur Besatzung war freilich so umfassend, dass der Senat angesichts der hohen Kosten von einem Baubeginn einstweilen absah (Viganò 2007, 152). Unterbrochen war diese Planungsarbeit, als Morettini 1720 vom Senat nach Korsika entsandt wurde. Teilprojekte konnten dann in den Jahren 1729-30 zu einem befriedigenden Abschluss gebracht werden (Viganò 2007, 164). Die Verbesserung von Priamàr blieb aber in den folgenden Jahrzehnten weiterhin ein zentrales Anliegen der Republik.

In Korsika war Morettini beauftragt, die Festungen der Städte Calvi, Ajaccio und Bonifacio zu inspizieren und Vorschläge zur Modernisierung zu machen. Ausserdem hatte er die heikle Aufgabe, die Grenzen der Güter von Genueser und fremden Einwohnern abzustecken. Gleichzeitig projektierte er Massnahmen zum Schutz vor Überschwemmungen und anderer Naturkatastrophen. Diese Fähigkeiten hatte er bereits in Locarno unter Beweis gestellt.
Zwei weitere Orte an den Grenzen der Republik waren La Spezia an der Küste und Gavi im Apennin, wo Festungen bestanden und wo von Morettini eine Ertüchtigung erwartet wurde. Als Ingenieur achtete er auf den modernen Einsatz der Artillerie und auf eine taugliche Infrastruktur. So projektierte er Zisternen, Unterkünfte sowie bombensichere Magazine für Notvorrat, Pulver und Waffen. Dabei gelang ihm ein Kompromiss zwischen Kosten und Nutzen, so dass seine Projekte ausgeführt werden konnten (Viganò 2007, 172).
Zu erwähnen sind schliesslich Morettinis Projekte für Flussverbauungen des Scrivia bei Novi Ligure und des Gromolo bei Sestri Levante (1729), des Lavagnola bei Savona (1732) und des Parmignola an der Grenze zu Massa (1733). In der Hauptstadt selbst war er kaum tätig. Die imposante Stadtbefestigung von 1634, die Mura nuove, wurde zwar laufend kontrolliert. Modernisierungen gab es aber anfangs des 18. Jahrhunderts aufgrund der finanziellen Lage der Republik nur sehr wenige (Finauri 2003, 16). Ein erneuter Ausbau der Verteidigung sollte dann 1745 im Vorfeld des Österreichischen Erbfolgekriegs unter der Leitung des aus spanischem Dienst abgeworbenen Ingenieurs Jacques de Sicre beginnen.
Verschiedene Urlaubsgesuche und -bewilligungen belegen, dass Morettini weiterhin die Geschäfte in seiner Heimat betrieb. Daran beteiligt waren auch seine Söhne, die zudem als Kommandanten in fremden Diensten und in Genua tätig waren. Er selbst ersuchte 1736 um Entlassung, kehrte anfangs 1737 nach Locarno zurück, wo er am 15. März an einem Hirnschlag verstarb – beurlaubt, aber von Genua noch nicht entlassen (Viganò 2007, 190).
Beitrag der italienischen Schweiz an die Militärarchitektur
Trotz grosser Hoffnungen auf die angekündigte Schule waren um 1720 kaum ein halbes Dutzend junger Ingenieure in Genua tätig (Forti 1992, 68). Wachsende Verpflichtungen in Korsika, straffere Kostenkontrolle und mögliche Bedrohungen durch das Geschehen im Piemont führten seit 1734 zu Entwürfen einer Heeresreform. In der Verkleinerung der Zahl der Offiziere allgemein sah man eine Möglichkeit zur Reduktion der Militärausgaben. Gleichwohl waren die Arbeiten an den Befestigungen in Savona und Gavi fortzusetzen. So blieben damals weiterhin sieben Ingenieure mit Morettini an der Spitze aufgelistet und qualifiziert. Die Republik war sich allerdings bewusst, dass sie auf fremde Kräfte angewiesen war und nahm später erneut auswärtige Offiziere unter Vertrag (Forti 1992, 71).
Nach heutiger Kenntnis gibt es von Pietro Morettini in Genua nur die Arbeit von 1718 an der Festung Priamàr, die ihn als Ingenieur auf dem aktuellen Stand der Technik in einer Gesamtplanung zeigt. Bei allen anderen Aufträgen hatte er bestehenden Anlagen zu perfektionieren. Er musste sich an die Vorgaben der Behörden halten und erfüllte sie mit Blick auf das Ganze.
Pietro Morettini steht in einer Tradition von Handwerkern und Künstlern, die ihre Fähigkeiten in der Praxis erwarben und von Fall zu Fall weiterentwickelten. So machte er sich einerseits mit der Bautechnik vertraut. Andererseits erwarb er militärische Kenntnisse auf zahlreichen Kriegsschauplätzen im Dienst von bekannten Ingenieuren wie Vauban und Coehoorn. Durch diese Erfahrung gelangte er zu direkten Kontakten mit Machthabern und zu einer hochbezahlten Stellung als Ingenieur, ohne dass er zuvor einen Truppendienst als Offizier hätte leisten müssen.
Beachtung verdient schliesslich der soziale und kulturelle Hintergrund. Im südlichen Voralpengebiet gab es zahlreiche Handwerker aus Baugewerbe und Kunst, die auswanderten, um für verschiedene Auftraggeber in Europa zu arbeiten. Ihr Wirken und ihre Rückkehr wird als «Maestranze» erfasst und erforscht (HLS 8, 201-2). Wegen ihrer italienischen Familiennamen werden sie im Norden oft pauschal «Italiener» genannt. In Italien nannte man sie z.B. maestri comacini e antelami oder artisti dei laghi, also Meister aus Como, aus dem Val d’Intelvi oder Künstler aus dem Gebiet der oberitalienischen Seen. Bei den Befestigungen lässt sich ebenfalls eine stattliche Zahl von Berufsleuten wie Geschützgiesser, Hauptleute und Söldner, Steinmetze, Vorarbeiter, Architekten und Ingenieure erkennen. Darunter hat es Nachkommen aus jenem Teil der Lombardei, der als Vogteigebiet unter der Hoheit der eidgenössischen Orte stand. Ihre genaue Herkunft ist nicht offensichtlich, sondern ergibt sich erst nach einem sorgfältigen Quellenstudium, wie es Marino Viganò leistet (Vigano 2007, 201-254). An vielen Höfen verschafften sie dem Tessin sowie italienisch Bünden als ihrem Herkunftsort ein hohes Ansehen, was sich bei künftigen Bewerbungen entscheidend auswirken konnte. Pietro Morettini und seine Familie stehen auch in dieser Tradition.
19. 4. 2022 / B.M.